Wo das selbstbestimmte Leben endet

Dr. Franz Joseph Huainigg

Freitagabend, ich sitze am Computer und lausche dem Verfassungsgerichtshofpräsident Christoph Grabenwarter, der bekannt gibt, dass Beihilfe zum Suizid straffrei gestellt werden soll, die Tötung auf Verlangen bleibt aber verboten. Mein Telefon klingelt ununterbrochen, Sms werden geschickt. Was hat das für uns Menschen mit Behinderungen zu bedeuten? Ein Freund mit Behinderung schreibt mir: „Das ist aber arg, macht nicht wirklich Mut, sein Schicksal annehmen zu können“. Alle meine Freunde, mit und ohne Behinderung, sind entsetzt und fühlen sich vor den Kopf gestoßen. Der gute österreichische Weg Sterbebegleitung durch Palliativmedizin und Hospiz statt Sterbehilfe wird mit einem Schlag verlassen. 

Der VfgH schließt sich dem allgemeinen Mainstream der Autonomie und Selbstbestimmung als höchste Werte an. Das Recht auf Leben wird hingegen in den Hintergrund gerückt. Eine völlig autonome Entscheidung, ohne Einfluss eines dritten, wie es der VfgH fordert, kann es aber in Wirklichkeit nicht geben. Denn wie schon Erwin Ringel, Psychiater und Analyst der österreichischen Seele, diagnostiziert hat, leben wir alle in einer Gemeinschaft, einer Familie, haben Freunde und Netzwerke. Ein völlig autonomer Beschluss ist nicht möglich, wird immer von außen beeinflusst und hat einen Einfluss nach außen. Die Möglichkeit sein Lebensende selbstbestimmt zu entscheiden gab es auch schon bisher durch die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht. Wie eine Patientenverfügung funktioniert, habe ich auch selbst erfahren. Bei einer großen Gesundheitskrise 2006 bekam ich durch die aufsteigende Lähmung kaum Luft, war durch die Schluckbeschwerden abgemagert und konnte, so schwach wie ich war, kaum noch sprechen. Die Ärzte fragten: „Wollen Sie überhaupt noch leben?“ Ich wollte! Ich habe in einer Patientenverfügung festgelegt, dass ich weiterleben möchte und dass alle medizinischen Möglichkeiten dafür genutzt werden sollten.  Alle diese medizinischen Eingriffe hätte ich auch ablehnen können und man hatte mir ein Sterben ohne Erstickungsängste und Schmerzen zugesagt. Heute weiß ich, dass meine damalige Entscheidung goldrichtig war. Der Mensch ist anpassungsfähiger als man denkt. Ich gestehe, vor 20 Jahren hätte ich mir so ein Leben schwer vorstellen können. Wenn ich mich heute selbst im Fernsehen sehe, erschrecke ich immer wieder. Puh, so behindert! Ich sehe jemanden, der weder Arme noch Beine bewegen kann, von einer Assistentin im Rollstuhl fortbewegt wird und an einem Beatmungsschlauch hängt. Da verstehe ich auch Menschen, die zu mir sagen: „Mit dieser Behinderung könnte ich nicht leben!“ Aber glauben sie mir: Meine Innensicht ist anders. Ich lebe ein selbstbestimmtes Leben durch die Unterstützung Persönlicher Assistent*innen, habe eine Familie, einen herausfordernden Job und führe ein zufriedenes Leben. Mein Beatmungsgerät nehme ich im Alltag oft gar nicht mehr wahr. Wer sich hingegen für die jetzt vorhandene Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid ausspricht, dessen Entscheidung ist irreversibel. Es ist ausgesprochen problematisch, dass der VfGH argumentiert, dass es keinen Unterschied zwischen dem freien Willen, eine lebensrettende Maßnahme im Rahmen einer Patientenverfügung abzulehnen, und dem freien Entschluss, eine Beihilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen, gibt. Auch und gerade in der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts macht es aber sehr wohl einen Unterschied, ob man den Menschen sterben lässt oder den Tod bewusst herbeiführt. 

Das VfGH Erkenntnis ist sehr differenziert. Man sieht das Ringen der Richter und Richterinnen, die Tür doch nicht zu weit aufzumachen. Das ist grundsätzlich gut. Jedoch wurde die Situation und die Erkenntnis aus anderen Ländern, wo die Beihilfe zum Suizid bereits eingeführt worden ist, nicht berücksichtigt. Wenn die Türe auch nur einen Spalt geöffnet wird, ist die Büchse der Pandora offen und a slippery slope beginnt. Wie sich in Ländern, die die Beihilfe zum Suizid legalisiert haben gezeigt hat, werden die Einschränkungen Schritt für Schritt erweitert, von der terminalen Lebensphase bis hin zur Beihilfe zum Suizid von Minderjährigen oder demenzerkrankten Menschen. Seit 1998 verzeichnet die Schweiz einen stetigen Anstieg assistierter Suizide von Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Die Zahlen haben sich in den Jahren 2009 bis 2014 mehr als verdoppelt, bei in etwa gleichbleibender Zahl “normaler” Suizide. In jenen Ländern hat sich auch gezeigt, dass die Legalisierung der Beihilfe zum Suizid auch die Grundstimmung in der Bevölkerung verändert und die Selbstbestimmung in dieser Frage immer mehr ausgehöhlt wird.

Wer wie ich pflegebedürftig und immer auf die Unterstützung und Hilfe anderer Menschen angewiesen ist, braucht schon ein hohes Selbstwertgefühl, um die notwendigen Hilfeleistungen, Unterstützungen und Assistenzleistungen anzunehmen. Durch die Möglichkeit des Suizids entsteht natürlich ein Druck auf Menschen mit Behinderungen. Überall zeigt sich, dass die als Ausnahme gedachte Beihilfe zum Suizid mit der Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung dazu geführt hat, dass sich insbesondere behinderte Menschen dafür rechtfertigen müssen, dass sie weiterleben wollen, obwohl sie anderen „so sehr zur Last fallen“. Anderen zur Last zu fallen, wird auch als Hauptgrund der meisten Beihilfen zum Suizid angeführt.

Eine Klägerin mit multipler Sklerose argumentiert in ihrer Anklageschrift, dass die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid ihr Leben verlängern würde. Denn jetzt ist sie noch in der Lage in die Schweiz zu fahren, später mit steigender Behinderung jedoch nicht mehr. Durch eine Beihilfe zum Suizid in Österreich hätte sie mehr Zeit gewonnen um später ihr Giftgetränk selbst einnehmen zu können. Dieses Argument, dass die Beihilfe zum Suizid lebensverlängernd wirkt, ist jedoch zynisch und in Folge kann man sich mit dem gleichen Argument auf das Recht auf Leben auch für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe an den Verfassungsgerichtshof wenden. Denn wenn sie nicht mehr in der Lage ist, den Becher selbst zum Mund zu führen, würde es ihr Leben noch weiter verlängern, wenn es die Möglichkeit auf Tötung auf Verlangen gäbe. Mit weiteren Verfassungsklagen ist also zu rechnen. 

Der Wunsch zu sterben ist in Wahrheit immer ein Hilferuf, wie es Erwin Ringel sagt, der selbst viele Jahre im Rollstuhl verbrachte. Sehr prägend war für mich der Austausch mit einem Polen, der für ein Euthanasiegesetz kämpfte, da er beatmet wird. Janusz Świtaj wollte nicht mehr leben und forderte, die Abschaltung seines Beatmungsgerätes. Das berührte mich sehr. Ich schrieb ihm eine Mail: „Was muss passieren, damit du wieder leben möchtest?“ Er antwortete tatsächlich: „Ich liege seit 10 Jahren Zuhause im Bett und werde von meinen Eltern gepflegt. Den ganzen Tag starre ich die Decke an. Ich habe drei Wünsche: Ein mobiles Beatmungsgerät und einen Elektrorollstuhl, damit ich aus dem Bett komme, eine Persönliche Assistenz, damit ich selbstbestimmt leben kann und einen Job, damit ich eine Aufgabe habe.“ Drei Jahre später erfuhr ich, dass sich all seine Wünsche erfüllt haben. Eine polnische Schauspielerin und Stiftungsgründerin nahm sich seiner an. Dadurch konnte er zu studieren beginnen und bei der Stiftung als Berater für Menschen in Lebenskrisen arbeiten. Damit verhalf er anderen zu Lebensperspektiven, die er selbst wiedergefunden hatte. Der Sterbewunsch hängt meistens mit Perspektivlosigkeit, Schmerzen und Einsamkeit zusammen und muss daher als Hilferuf für eine Verbesserung der Lebenssituation verstanden werden, auf den wir anders reagieren müssen: mit Zuneigung, Trost und Nächstenliebe sowie mit Palliativmedizin und Hospiz und mit entsprechenden Rahmenbedingungen. 

Sehr ausführlich stellt der VfGH dar, wie groß und vielfältig der Einfluss auf die Selbstbestimmung des Menschen ist.  Er benennt nicht nur familiäre und soziale Einflüsse, er erwähnt auch die Hilfsbedürftigkeit, den eingeschränkten Bewegungsspielraum und sogar auch die ökonomischen Umstände. Der Gesetzgeber habe daher Maßnahmen zur Verhinderung von „Missbrauch vorzusehen, damit die betroffenen Personen ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fassen.“ Und dann führt er weiter aus: „Es sind daher gesetzgeberische und sonstige staatliche Maßnahmen erforderlich, um den Unterschieden in den Lebensbedingungen der Betroffenen entgegen zu wirken und allen palliativmedizinische Versorgung zu ermöglichen“. Da zweifle ich, dass die Frist des VfGH für eine Novelle des StGB bis zum 31.12.2021 ausreichen wird. 

Jetzt ist die Politik gefordert! Rahmenbedingungen für die Verfassungsänderung zu finden. Mir erscheint wichtig, dass die Beihilfe zum Suizid keinesfalls durch ÄrztInnen durchgeführt werden darf. Das wäre eine fatale Vermischung der Rolle und Aufgabe des Arztes zur Lebenserhaltung und zur Achtung des hippokratischen Eides. Auch darf keinesfalls die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid erlaubt werden, wie das in der Schweiz der Fall ist. Medienberichten zufolge haben die Schweizer Sterbehilfevereine einen Jahresumsatz von 10 Millionen Schweizer Franken. Der Schweizer Sterbehilfeverein Dignitas, der auch hinter der österreichischen Verfassungsklage steht, erwartet sich auch Österreich als Geschäftsfeld zu erobern. Es ist tragisch genug, wenn jemand mit Suizidgedanken keine Hilfe zum Leben findet. Geradezu zynisch ist es aber, wenn andere an Suiziden Geld verdienen.

Vor einer Beihilfe zum Suizid braucht es eine umfassende Klärung durch ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen. Die Durchführung sollte aber ausschließlich durch eine Behörde erfolgen. Und nicht zuletzt muss Palliativmedizin und Hospizversorgung rasch ausgebaut werden, um den österreichischen Weg der Sterbebegleitung statt Sterbehilfe fort zu setzen. Denn der Wunsch zu sterben ist ein Hilferuf!