Hier gehts zur Stellungnahme des ÖBR.

Der Österreichische Behindertenrat hat anlässlich des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs zur assistierten Sterbehilfe eine Position betreffend Menschen mit Behinderungen zu diesem Thema verfasst.Der Österreichische Behindertenrat bekundet seine Besorgnis, dass mit jeglicher Form der Sterbehilfe die Büchse der Pandora geöffnet werden kann und Menschen mit Behinderungen oder pflegebedürftige Menschen sich für ihr Leben rechtfertigen oder dazu gedrängt fühlen, ihrem Leben ein Ende setzen zu müssen.Der Österreichische Behindertenrat hält zu Beginn dieser Position ausdrücklich fest, dass die aktive Sterbehilfe in der Form von Tötung auf Verlangen entschieden abgelehnt wird. In den Ländern, in denen die organisierte Suizidassistenz und das Töten auf Verlangen legalisiert wurden (Belgien, Luxemburg, Niederlande), hat es in den vergangenen Jahren einen Dammbruch gegeben indem bestimmte Regularien immer weiter aufgeweicht und schlussendlich sogar Kinder miteinbezogen wurden. Dies muss der Gesetzgeber mit allen Mitteln verhindern. Der Österreichische Behindertenrat fordert vehement ein verfassungsrechtliches Verbot der Tötung auf Verlangen.1Auch steht der Österreichische Behindertenrat dem assistierten Suizid sehr kritisch gegenüber.
Im Folgenden werden die Bedenken in diesem Zusammenhang ausgeführt:

Rechtliches
Der VfGH hat in seinem Erkenntnis2 vom 11.12.2020 die in § 78 StGB enthaltene Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet,“ als verfassungswidrig aufgehoben und festgestellt, dass das ausnahmslose Verbot jeglicher Art der Hilfe zur Selbsttötung verfassungswidrig ist. Diese Aufhebung tritt mit Ablauf des 31.12.2021 in Kraft. Bis dahin muss die Regierung eine verfassungskonforme Lösung gefunden haben.
Begründet wird die Entscheidung des VfGH im Wesentlichen damit, dass ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf freie Selbstbestimmung besteht, welches sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben umfasst. Das aus der Bundesverfassung ableitbare Recht auf freie Selbstbestimmung erfasst nicht nur die Entscheidung und das Handeln des Suizidwilligen selbst, sondern auch das Recht des Suizidwilligen auf Inanspruchnahme der Hilfe eines (dazu bereiten) Dritten. Wird keine Neuregelung geschaffen, ist ab 1. Jänner 2022 jede Form der Beihilfe zum Suizid straffrei.

Die Entscheidungen sowohl zum Suizid als auch zur Beihilfe muss frei und selbstbestimmt erfolgen und die Betroffenen müssen über eine hinreichende Grundlage zur Beurteilung ihrer Entscheidung verfügen. Dafür sind aus Sicht des VfGHs auch „gesetzgeberische und sonstige staatliche Maßnahmen notwendig, um den Unterschieden in den Lebensbedingungen von Betroffenen entgegenzuwirken und allen einen Zugang zu palliativmedizinischer Versorgung zu ermöglichen.“
Weiters müsse der Entschluss zur Selbsttötung „auf einer nicht bloß vorübergehenden, sondern dauerhaften Entscheidung beruhen“ und es müsse ausgeschlossen sein, dass die betroffene Person ihre Entscheidung unter dem Einfluss Dritter fasst. Daher muss der Gesetzgeber Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch vorsehen.
Liegt dies vor, wäre der Gesetzgeber sowohl aufgrund des Schutzes des Lebens als auch des Rechts auf Selbstbestimmung verpflichtet, einen assistierten Suizid zuzulassen.

Aufzeigen von Alternativen
Suizidwünsche stehen häufig im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen, die jedenfalls mitberücksichtigt werden müssen.
Einsamkeit, die Angst, den Angehörigen zur Last zu fallen oder in ein Pflegewohnhaus gehen zu müssen, die Sorge um die eigene Autonomie sowie psychische und/oder physische Leiden sind häufig der Grund dafür, warum Menschen nicht mehr weiterleben wollen. Aber nicht nur der Ist-Zustand, sondern auch ein zu erwartender Umstand, kann den Lebenswillen nehmen. Wenn man genau hinhört, dann kommt vielfach heraus, sie wollen nicht mehr „so“ leben. Damit kann der freie Wille jedenfalls in Frage gestellt werden, denn die Art „so“ leben zu müssen, ist eine Zwangslage, die keinen freien Willen zulässt.
Es muss daher im Vorfeld immer erhoben werden, was für die Betroffen erforderlich ist, um ein lebenswertes Leben führen zu können. Wir haben die Möglichkeiten, Schmerzen und einen leidvollen Tod zu lindern und Menschen müssen auch nicht einsam sein. Den erforderlichen Bedarfen ist im weitestmöglichen Umfang zuentsprechen.
Der Wunsch des assistierten Suizids darf nicht auf strukturellen oder organisatorischen Defiziten beruhen.
Daher ist vorrangig dafür Sorge zu tragen, dass Menschen mit Behinderungen die Rechte aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) gewährt werden und sie uneingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben können.

De-Institutionalisierung
Die Begründung mit einem Selbstbestimmungsrecht einen assistierten Suizid in Anspruch nehmen zu können, klingt im Zusammenhang mit schwerkranken Menschen bzw. Menschen mit Behinderungen nahezu zynisch, da ihnen zum großen Teil ein selbstbestimmtes Leben verunmöglicht wird.
Bevor eine selbstbestimmte Entscheidung zum Sterben angedacht werden kann, ist alles dafür einzurichten, damit Menschen mit Behinderungen ein Selbstbestimmungsrecht im Leben erhalten.
Ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an unserer Gesellschaft werden zum einen Teil damit gewährt, dass Menschen mit Behinderungen frei entscheiden können, wo und mit wem sie leben wollen und andererseits all jene Unterstützungen und Voraussetzungen erhalten, um außerhalb von einschränkenden Strukturen leben zu können.
In den meisten Fällen ist es jedoch so, dass Menschen mit Behinderungen, mangels Alternativen, nur die Möglichkeit haben, in Einrichtungen zu leben, was einem selbstbestimmten Leben diametral gegenübersteht. Zahlreiche Studien bestätigen, dass allein durch strukturelle Vorgaben ein selbstbestimmtes Leben unmöglich ist und damit auch häufig die Gefahr besteht, verstärkt Gewalt ausgesetzt zu sein3.
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Strukturelle Gewalt kommt in allen Einrichtungen vor. Die Angst in ein Heim zu kommen, kann bei Menschen große Verzweiflung auslösen.
Aus diesem Grund fordert der Österreichische Behindertenrat auch seit vielen Jahren, dass De-institutionalisierung, eine der größten Anforderung an unsere Gesellschaft, vorrangig umgesetzt werden muss.

Selbstbestimmt leben
Der Fokus auf Selbstbestimmung und Chancengerechtigkeit ist nicht nur auf das Ende des Lebens zu reduzieren, sondern hat selbstverständlich für Menschen mit Behinderungen ein ganzes Leben lang zu gelten. Es sind dies die wichtigsten Leitprinzipien der UN-BRK. Menschen mit Behinderungen ist ein Recht auf ein Leben in Würde zu gewähren.
Dazu zählen unter anderem, dass der Zugang zu Hilfsmitteln, aber auch der Zugang zu personellen Unterstützungsformen wie umfassende Persönliche Assistenz und/oder psychosoziale Unterstützungs- und Therapieangebote, ausreichend zur Verfügung gestellt werden. Damit kann die Sorge, dem Umfeld zur Last zu fallen, zum Großteil genommen werden.
Persönliche Assistenz muss bundesweit einheitlich für alle Menschen, die sie benötigen, gewährt werden. Dazu sind umgehend Standards und Regelungen mit dem Bund und den Bundesländern zu erarbeiten und umzusetzen.
Zum Selbstbestimmungsrecht gehört ebenso, dass Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen durch unterstützte Entscheidungsfindung ihre Rechte wahrnehmen können. Hierfür ist qualifiziertes Personal für ausreichende Zeit und Zeitspannen (auch für mehrmalige Beratungen) zur Verfügung zu stellen.

Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht
Als Rechtsinstitute, die Selbstbestimmung in sehr eingeschränkten Lebenssituationen ermöglichen können, bestehen bereits die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht, womit einerseits medizinische Behandlungen bereits im Vorhinein für den Fall abgelehnt werden können, wenn der Patient seineEntscheidungs- oder Äußerungsfähigkeit verliert und andererseits eine Vertrauensperson bevollmächtigt werden kann, für den Patienten, im Falle des Verlusts der Entscheidungs- oder Äußerungsfähigkeit, zu entscheiden.
Untersuchungen zeigen, dass die Informationen zu Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen in der Bevölkerung nicht sehr verbreitet sind. Die meisten Menschen haben darüber kaum Wissen. Aber auch die, die informiert sind, nutzen diese Instrumente nur sehr wenig. Einerseits aufgrund der hohen finanziellen Belastungen und andererseits auch aufgrund der Kompliziertheit der Errichtung.
Informationen zur Patientenverfügung, zur Vorsorgevollmacht aber auch zur Erwachsenenvertretung müssen barrierefrei zur Verfügung stehen und verstärkt bekannt gemacht werden. Vorhandene Hürden – auch finanzieller Art – sind zu beseitigen. Die Rechtsinstitute der Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht müssen umfassend evaluiert werden.

Hospiz- und Palliativmedizin
Der einheitliche Entschluss zum Ausbau und zur Finanzierung des Hospiz- und Palliativbereichs besteht im österreichischen Parlament bereits seit mehr als 20 Jahren. Auch das Regierungsprogramm 2020 – 20244 formuliert das Ziel, Palliativpflege und Hospiz in die Regelfinanzierung zu überführen.
Dennoch fehlen nach Darstellung des Dachverbandes Hospiz österreichweit 87 Palliativbetten, 174 stationäre Hospizbetten, 5 Tageshospize, 60 Palliativkonsiliardienste, rund 33 Vollzeitärzt*innen in Mobilen Palliativteams und 135 Hospizteams.
Hospiz- und Palliativmedizin müssen in allen Fachbereichen massiv ausgebaut werden und allen Menschen mit Rechtsanspruch, solange sie benötigt werden, zur Verfügung stehen. Es braucht österreichweite, wohnortnahe, öffentlich finanzierte und gut zugängliche Angebote. Die Angebote müssen inklusiv und barrierefrei sein. Jedenfalls ist der Zugang zu umfassender, ausreichender Schmerztherapiesicherzustellen.
Darüber hinaus bedarf es auch der öffentlichen Finanzierung von Aus-, Fort- und Weiterbildungen für alle Berufsgruppen in der Hospiz- und Palliativmedizin. Die Finanzierung muss auch Spezialisierungen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen – umfassen.
Viele Menschen wissen nicht, welche Angebote es gibt, wenn sie schwer erkranken oder verunfallen. Informationen über Unterstützungsmaßnahmen und palliative Hilfen sind niederschwellig (z.B. beim Hausarzt, in Krankenhäuser usw.) barrierefrei und proaktiv zur Verfügung zu stellen.

Suizidprävention:
Der Wunsch zu sterben ist üblicherweise keine endgültige Entscheidung, sondern vielfach Ausdruck der Lebensumstände, die veränderbar sind. Auch wenn der assistierte Suizid straffrei gestellt wird, sind Gesellschaft und Staat daher weiterhin gefordert, die entsprechenden Mittel für Suizidprävention zur Verfügung zu stellen.
Suizidprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss vom Staat
entsprechend gefördert werden.
Maßnahmen der Suizidprävention sind auszubauen und mit ausreichenden Mitteln
auszustatten.

Beratung
Die Beratung muss alle Unterstützungsmöglichkeiten bis hin zur psychologischen und psychotherapeutischen Begleitung im Sinne der Lebensbejahung einschließen. Es muss die Zeit genommen werden zu eruieren, was die dahinterstehenden Motive für den Suizidwunsch sind. Es ist zu klären, was Betroffene brauchen, um ihre Lebensbedingungen annehmen zu können. Es müssen andere Wege aufgezeigt werden. Dafür braucht es Kompetenz über Suizidalität. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass Personen, die Beratungen durchführen, über das dafür notwendige Wissen verfügen.

Pflegereform
Die seit vielen Jahren angekündigte Pflegereform ist verstärkt umzusetzen. Der Pflegebereich ist mit den notwendigen Ressourcen auszustatten, damit all jene Missstände in Alten- Pflege- und Behindertenheimen, die auf deren Mangel zurückzuführen sind, verhindert werden und Menschen mit Behinderungen die Angst genommen wird, in den Einrichtungen vergessen und allein gelassen zu werden.

Kritische Überlegungen und offene Fragen

Missbrauch
Im Zusammenhang mit Sterbehilfe und assistiertem Suizid sehen wir auch die Gefahr der missbräuchlichen Nutzung. Sei es, dass Angehörige Druck ausüben oder das Leben vom Umfeld leichtfertig als nicht mehr lebenswert erachtet wird.
Daher sollen erbberechtigte Angehörige keine Assistenz zum Suizid leisten dürfen.
Um Missbrauch zu vermeiden, ist der Zugang zum assistierten Suizid, wenn überhaupt, so restriktiv wie möglich zu gestalten und darf höchstens in einem eng kontrollierten Rahmen nach einer gerichtlichen Genehmigung stattfinden.

Begutachtungen
Freie Entscheidungsfindung braucht klare Rahmenbedingungen. Die Begutachtungen müssen von Personen, die eine langjährige, sehr breite klinische Erfahrung besitzen, durchgeführt werden, nur dann kann die Freiverantwortlichkeit zweifelsfrei festgestellt werden. Auch wären wiederholte Verlaufsbeurteilungen und weitere Informationen beispielsweise aus dem Lebensumfeld dazu notwendig. Um die Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit der letztlich unumkehrbaren Entscheidung festzustellen, müsste jeder Begutachtungsprozess in mehreren Etappen und von mindestens zwei unabhängigen, dafür geeigneten Personen geführt werden. Die Begutachtung soll breitangelegt multiprofessionell erfolgen.

Freier Wille
Bis zu 90 Prozent5 der Menschen, die durch Suizid sterben, haben eine psychische Erkrankung. Psychische Erkrankungen führen zwar nicht per se zu einer Einschränkung des freien Willens, es ist allerdings sicherzustellen, dass der Wunsch nach Suizidassistenz tatsächlich dauerhaft dem freien Willen entspringt und nicht durch eine psychische Erkrankung beeinflusst ist. Menschen mit psychischen Erkrankungen werden besonders stigmatisiert, daher ist eine gute medizinische und psychosoziale Versorgung dieser Menschen überaus wichtig. Der Österreichische Behindertenrat hebt hervor, dass Menschen, die den Wunsch nach assistiertem Suizid äußern, nicht automatisch als psychisch krank angesehen werden dürfen.

Der Arzt als Sterbehelfer
Ärztliches Handeln ist dazu bestimmt, beim Leben zu helfen. Ihr medizinisches Handeln ist entweder auf das Heilen oder auf das Lindern von Leiden ausgerichtet. Suizidbeihilfe sollte daher nicht als ärztliche Leistung definiert werden.
Ärzte aber auch andere medizinische Professionen müssen in ihrer Ausbildung und Fortbildung verstärkt Kenntnisse zu Palliative Care erhalten, um diese auch im Falle eines Sterbewunsches einsetzen und vorhandene Angebote verbinden zu können.

Vereine
Der Österreichische Behindertenrat weist auf die Gefahr hin, dass Vereine allein durch das Anbieten des assistierten Suizids diese propagandieren würden. Es muss ausgeschlossen werden, dass mit dem Tod ein Geschäftszweig eröffnet werden kann.
Hier wären enge gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen.

Fazit
Jeder Mensch hat das Recht, auf einen würdevollen Tod. Dies ist in der heutigen Zeit gut zu erreichen, wenn den Menschen Palliativmediziner*innen oder Hausärzte begleiten, wenn Angst und Einsamkeit durch Assistenz (wenn notwendig auch rund um die Uhr) vermindert, Schmerzen gelindert und soziale und finanzielle Sorgen genommen werden.
Es ist sicherzustellen, dass wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, damit Menschen gar nicht erst in Situationen kommen, in denen sie sich gegen das Leben entscheiden.
Beratung/Aufklärung und Begleitung soll nicht nur den betroffenen Personen, sondern auch deren Angehörigen zugutekommen. Menschen dürfen nicht allein gelassen werden. Es ist verstärkt auf alternative Wege hinzuarbeiten und den Menschen bedarfsgerecht sowohl technische als auch personelle Unterstützung zu gewähren.
Wir müssen eine Gesellschaft sein, die Verantwortung übernimmt, die unterstützt, die aufklärt, die die Versorgung in Alten- Pflege- und Behindertenheimen verbessert und die Palliativmedizin ausbaut. Die Legalisierung des assistierten Suizids darf keinesfalls dazu führen, dass diese Verantwortung abgegeben wird.